It's the identity, stupid – statt Klassenkampf führt die AfD einen Kulturkampf
It's the identity, stupid – statt Klassenkampf führt die AfD einen Kulturkampf
Nach Wahlerfolgen der AfD setzt mittlerweile regelmäßig ein selbstberuhigendes Ritual in der demokratischen Öffentlichkeit ein. Zuletzt war dies nach der Landtagswahl in Niedersachsen zu besichtigen. Eingeleitet wird das Ritual durch den Zahlenzuständigen der ARD-Wahlsendung, Jörg Schönenborn. Irgendwann im Laufe des Wahlabends ruft er auf seinem Touchscreen ein Balkendiagramm auf, in dem das Verhältnis zwischen Protest- und Überzeugungswählern der AfD dargestellt sein soll. Für Niedersachsen stand da: Nur 38 Prozent der AfD-Wählenden hätten ihre Entscheidung aus Überzeugung, aber 53 Prozent aus Enttäuschung über die anderen Parteien getroffen.
Schon immer sind die „Enttäuschten“ in dieser Erhebung über die AfD in der Mehrheit. Für Demokratinnen und Demokraten, die von den Wahlergebnissen der AfD in Schockstarre versetzt werden, haben diese Zahlen eine trügerische therapeutische Wirkung. Suggerieren sie doch, dass eher die AfD-Wählenden ein Problem mit der Performance der demokratischen Parteien haben als die Gesellschaft mit der Anfälligkeit gegenüber einem rechtsextremen Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes. Wenn man dieses Placebo schluckt, dann müssten die anderen Parteien einfach nur bessere Politik machen, um Wähler von der AfD „zurückzuholen“.
Schön wär’s, aber die Wirklichkeit ist deutlich ungemütlicher: Die AfD verfügt bundesweit mittlerweile über die treueste Wählerschaft unter den Parteien. Wer AfD wählt, ist für andere Parteien erstmal nicht mehr zu erreichen. Wichtiger aber noch: Bei der AfD ist der Protest das Programm und die Delegitimierung der Demokratie die Identität. Man könnte auch sagen: Der Protest ist die Überzeugung. Diese beiden Faktoren demoskopisch voneinander zu trennen, führt politisch in die Irre.
Das Politikangebot der AfD ist also in erster Linie ein Identitätsangebot. Das binäre Denken in Ingroup („Wir“) und Outgroups („die Anderen“), in Freund und Feind, ist konstitutiv für die eigene Weltanschauung. Wie intensiv die AfD mittels In- und Exklusion eine kollektive Identität unter ihrer Anhängerschaft konstruieren will, offenbart sich auf ihrer Facebook-Seite, dem eigenen Massenmedium der Partei. Eine quantitative und qualitative Textanalyse von 1175 Facebook-Posts der AfD-Bundespartei aus der vorherigen Legislaturperiode zeigt, dass die Botschaften der Partei Identitätspolitik pur sind: In über 75 Prozent der Posts konstruiert die AfD eine kollektive Identität und versucht, damit ein Gemeinschaftsgefühl unter der Anhängerschaft zu erzeugen.
Die inhaltliche Ausgestaltung dieser Identität ist für den aktuellen Aufstieg der AfD in der kriegsgetriebenen Wirtschafts- und Energiekrise von hohem Informationswert: Die AfD konstruiert eine Doppelidentität, sie versteht sich und ihr Umfeld als „Opfer“ und „Retter“ zugleich. Zentraler Konfliktgegenstand sind dabei jedoch nicht etwa ökonomische oder soziale Fragen, sondern kulturelle Themen, konkreter: ein Lebensstil, den sie zum „kulturtypischen“ deutschen, nahezu naturgesetzlich verbrieften Lebensstil erhebt. Dieser Umstand war schon vor Inflation und Rezession bemerkenswert, schließlich ist eine wichtige Gemeinsamkeit der AfD-Wählerschaft die sozioökonomische Abstiegsangst aus der Mittelschicht. Aber die AfD deutet die gegenwärtige Energie- und Wirtschaftskrise zu einer Identitätskrise um. Statt Klassenkampf führt sie Kulturkampf. Statt Entlastung von Preissteigerungen bietet sie Entlastung von Veränderungsdruck. Die kurzfristige Krisen- und die langfristige Transformationspolitik der Bundesregierung deutet sie als Angriff auf ihren Lebensstil, statt als Folge des Angriffs Russlands auf die Ukraine oder der Klimakrise.
Zwar bewirtschaftet die AfD ihre kulturelle Identität als völkisch-nationalistische Kraft auch über Kategorien wie Ethnie oder Religion, ebenso steht aber ihre Vorstellung vom „normalen Leben“ im Zentrum des Selbstverständnisses. Diese „Normalität“ macht sie an alltäglichen Dingen wie Mobilität, Ernährung, Kleidung oder Freizeitgestaltung fest. Also jene Bereiche des eigenen Lebens, die direkt von der Inflation betroffen sind. Die AfD zieht die Grenze zwischen den Insidern, die einen „typisch deutschen“ Lebensstil pflegen, und jenen Outsidern, die sich angeblich davon entfremdet hätten, mitten durch die Gesellschaft: Bei der Ernährung wird die Trennlinie zwischen „Fleisch“ und „Vegan“ gezogen, bei der Mobilität zwischen Diesel und E-Auto, bei der Urlaubsplanung zwischen Billigflug und Nichtflug. Die Outsider gelten als Verräter der eigenen Kultur. Dazu zählt sie die politischen Eliten genauso wie zivilgesellschaftliche Gruppen, beispielsweise „Fridays for Future“. Schließlich ist der Treibstoff ihrer kulturellen Identität billige fossile Energie. Die Öffnung von Nord Stream 2 ist daher als Hauptforderung der AfD folgerichtig und hat eine zweifache Funktion: Erstens werden mit der Kulturalisierung ökonomischer Themen die Verunsicherten von Veränderungsdruck entlastet, ein Angebot, das auch für viele Westdeutsche attraktiv zu sein scheint. Zweitens kommen Putinfans auf ihre Kosten, die zahlreicher in Ostdeutschland zu vermuten sind. Für beide gilt: Die Pipeline ist das Versprechen von Identitätswahrung.
So kam auch der stets symbolbewusste Björn Höcke in seiner Rede am Tag der Deutschen Einheit in Gera ins Schwärmen über Wladimir Putin. Dessen völkischen Nationalismus bewarb er als Vorbild für einen „neuen Westen“. Auf soziale Nöte und was dagegen zu tun wäre, ging er in seiner halbstündigen Rede nicht ein. Stattdessen nannte er Russland „den natürlichen Partner unserer Lebensweise“. Denn der Freund im Kreml hat passenderweise nicht nur das benötigte Gas, sondern auch die gleichen illiberalen Ansichten zu LGBTQ-Rechten oder Pressefreiheit. Die Bundesregierung wird hingegen zum „internen Outsider“ erklärt, als Feind im Inneren markiert, mit ihrer Dekarbonisierungsagenda ist sie in dieser Erzählung der „natürliche Gegner“ der eigenen Lebensweise. Dort zeigt sich die Flexibilität der heutigen Identitätspolitik der AfD: In der Migrationspolitik geht die radikal Rechte gegen jeden von außen vor. In der Energiekrise dagegen kommt der Freund von außen, der Feind sitzt im Inneren.
Mit dem positiv gewendeten Selbstverständnis von der „Retterin“ schafft die AfD hingegen einen emotionalen Heldenmythos für sich und ihre Basis. Man erhebt sich zum tatkräftigen Bollwerk gegen den kulturellen Untergang, zur einzigen Kraft für die Überwindung der krisenhaften Gegenwart und letzten Chance auf einen positiven Ausgang der Geschichte. Diese Zukunftsperspektive skizziert die AfD in erster Linie als einen soziokulturellen Zustand der Gesellschaft, der durch eine ethnisch homogene Zusammensetzung sowie einen vorherrschenden Lebensstil – siehe oben: Diesel, Fleisch, Billigflug – gekennzeichnet ist. Dieser kulturelle Kampf um das „normale Leben“ ist flexibel bzw. willkürlich auf sämtliche politische Themenfelder anwendbar und macht die Partei auch in dieser Hinsicht unabhängiger von ihren einstigen Mobilisierungsthemen wie der Migration oder Euro-Politik. Und es befreit die AfD von einem sachpolitischen Angebot, mit dem sie auch in dieser Krise nicht aufwarten kann. So stark die AfD in den Umfragen ist, so schwach sind ihre Kompetenzwerte in den krisenrelevanten Politikfeldern. Ob bei sozialer Gerechtigkeit, Wirtschaft oder Energie, der AfD werden in der Sachpolitik selbst von den eigenen Wählern kaum Lösungen zugetraut. Würde bei Wahlen nach Kompetenzwerten entschieden, käme die Partei kaum über die Fünf-Prozent-Hürde.
Um Sachkompetenz geht es also nicht. Aber um ein Identifikationsangebot. Eine der wichtigsten Zutaten für das Gemeinschaftsgefühl der AfD sind Emotionen. Auch dazu gibt es interessante Analysedaten aus der Facebook-Kommunikation der Partei: Im Durchschnitt enthält jede „Wir“-Botschaft mehr als einen emotionalen Trigger. Anders als oftmals angenommen, handelt es sich dabei nicht nur um negative Affekte wie Empörung oder Angst. Positive und negative Emotionen kommen in gleichem Verhältnis vor. Überlegenheit, moralische Aufrichtigkeit, Mut und Machertum sind von der AfD häufig eingesetzte positive Gefühle. Die Facebook-Seite der AfD ist somit keinesfalls allein eine „Wutmaschine“. Die selbstbewussten und optimistischen Zuschreibungen erzeugen eine Selbstheroisierung, die wiederum der Selbstaufwertung des individuellen AfD-Unterstützers dient. Ohne dieses positive Gruppengefühl und die hoffnungsvolle Zukunftsperspektive würde der AfD keine nachhaltige Mobilisierung gelingen. Die düstere Gegenwartsbeschreibung, verursacht von inneren und äußeren Feinden, mag kurzfristig Affektive und Aufmerksamkeit generieren, eine langfristige Bindung der Wählerinnnen und Wähler ist jedoch auf eine hoffnungsvolle Botschaft angewiesen, eine Brücke von der Krise im Heute zur Erlösung im Morgen. „Deutschland zuerst“ und „Deutschland, aber normal“ sind die Verdichtungen dieses Angebots. Normalität als Identität. Der Haken: Es ist eine Scheinnormalität, deren Ansteuerung in der Realität von Krieg und Klima allenthalben krisenverschärfend wirken wird. Der Deutschland-zuerst-Kurs ist damit in Wahrheit ein Krise-für-immer-Kurs.
Das intensive identity building in der Kommunikation der AfD erklärt sich letztlich nicht nur durch deren identitären Wesenskern, sondern auch durch ihre Funktion für die Etablierung der Partei. Traditionell sind Parteien durch ihre Verbindung mit einem bestimmten sozialen Milieu entstanden: SPD und Arbeiterklasse, CDU und Katholiken, und auch den Grünen half das einende Band mit der Umweltbewegung. Die gesellschaftliche Verankerung und somit auch politische Mobilisierungsfähigkeit von Parteien gründete lange Zeit auf einem Gemeinschaftsgefühl zwischen ihnen und bestimmten sozialen Gruppen. Längst aber sind die klassischen sozialen Milieus zerbröselt und Parteien gesellschaftlich verwundbar geworden, weil die Quellen für große Stammwählerschaften versiegten. Der Aufstieg der AfD ist in Teilen auch damit zu erklären, dass sie auf diese Entwicklung von Beginn an eine zeitgemäße Antwort gefunden hat: Nicht das soziale Milieu, sondern die sozialen Medien sind der Ort der Identitätsbildung. Wenn der Winter kalt wird, bleibt es zumindest in der Echokammer kuschelig warm.