Wie „verqueer“ ist die SPD?

Im Streit über einen FAZ-Beitrag von Wolfgang Thierse zur Identitätspolitik hat die SPD-Vorsitzende versagt. In normalen Zeiten hätte eine souveräne Parteiführung zu einer Debatte auf neutralem Boden eingeladen.

09
03
DPA | JÖRG CARSTENSEN; ANDREAS SCHOELZEL
09
03
DPA | JÖRG CARSTENSEN; ANDREAS SCHOELZEL

Wie „verqueer“ ist die SPD?

Im Streit über einen FAZ-Beitrag von Wolfgang Thierse zur Identitätspolitik hat die SPD-Vorsitzende versagt. In normalen Zeiten hätte eine souveräne Parteiführung zu einer Debatte auf neutralem Boden eingeladen.

Der folgende Beitrag von Peter Brandt und dem Verleger des Hauptstadtbriefs Detlef Prinz erschien heute in der Reihe Fremde Federn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Für die Abonnentinnen und Abonnenten des Hauptstadtbriefs machen wir den Text an dieser Stelle noch einmal zugänglich.

Die vergangene Woche hätte eine schöne und erfolgreiche für die SPD sein können. Als erste der Parteien hat sie einen veritablen Kanzlerkandidaten und seit Wochenbeginn sogar ein Programm. Dass es anders kam, zeigt: Erstens kommt es bei der SPD immer anders als geplant. Zweitens scheint sie bis heute nicht zu wissen, was politische Kommunikation bedeutet. Statt über ihr Programm zu debattieren, beschäftigen sich Partei-Establishment und Hauptstadtmedien seit gut einer Woche mit den Spaltlinien einer Partei, die ohnehin an politischer Schwindsucht leidet. Dies war vermeidbar, aber die Parteivorsitzende wollte es wohl so.

Der Ausgangspunkt: Die FAZ hat am 22. Februar einen Text von Wolfgang Thierse veröffentlicht, in dem er den Anspruch sexueller und anderer Minderheiten kritisiert, ausgehend von ihrer Identität selbst zu definieren, was für sie richtig und gegebenenfalls unerträglich ist, statt sich dem offenen und kontroversen Streit darüber auszusetzen. Der Vorwurf, etwas sei verletzend, trete oft an die Stelle der argumentativen Auseinandersetzung. Thierse sorgt sich um den Zusammenhalt des Gemeinwesens. Nach dem Eindruck der überwiegenden Zahl von Kommentaren hat er versucht, nicht nur seine Sicht zu markieren, sondern ein Angebot für einen Minimalkonsens der Sozialdemokratie in dieser Hinsicht zu entwickeln. So weit, so im Rahmen dessen, was eigentlich „normal“ und diskutabel ist.

Diesem Auftakt schloss sich – unverbunden – eine Debatte der SPD-Grundwertekommission an, bei der Gesine Schwan vergeblich versuchte, eine Debatte zwischen der FAZ-Feuilletonchefin und der Queer-Community zu moderieren. Die Diskussion endete in einem Eklat. Doch dies war erst das Vorspiel zu dem, was die breite Öffentlichkeit erreichte – eine parteiinterne Mail der SPD-Vorsitzenden Esken und ihres Stellvertreters Kühnert. Beide zeigten sich „beschämt“ wegen „mangelnder Sensibilität“ von „rückwärtsgewandten“ Genossinnen und Genossen im Umgang mit „queeren Personen“. Gemeint waren offensichtlich Wolfgang Thierse und Gesine Schwan. Ersterer antwortete prompt mit dem Angebot an die SPD-Vorsitzende und den gesamten Vorstand, er könne die SPD verlassen, falls seine Position nicht mehr erwünscht sei in der Partei. Seitdem ist die SPD wieder mit sich beschäftigt. So weit, so verque(e)r, so bekannt.

In normalen Zeiten hätte eine souveräne Parteiführung zu einer (digitalen) Diskussion auf neutralem Boden eingeladen und den Protagonisten eine durchaus streitbare Plattform geboten, sich darüber zivil auszutauschen, was eigentlich unser demokratisches Gemeinwesen zusammenhält: nämlich die Bereitschaft, durch die Augen des jeweils anderen zu sehen. Das hätte der Auftakt zu einer Debatte – initiiert durch die SPD – werden können, bei der nicht die Ausgrenzung im Sinne der sogenannten „Cancel Culture“ im Mittelpunkt steht, sondern die Frage: Was verbindet Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten eigentlich gegenüber denen, die diese Demokratie wirklich bedrohen? Dass dies bis heute nicht geschah, sondern stattdessen eifrig herumtelefoniert wurde, damit der öffentliche Streit nicht irreparable Schäden an der Partei hinterlässt, ist das eigentliche Versagen der SPD-Spitze.

Dass eine Parteivorsitzende und ihr Stellvertreter es so weit haben kommen lassen, statt sich einfach zu entschuldigen, weil sie sich in ihrer „Scham“ gegenüber Thierse und Schwan eigentlich von einem erheblichen Teil der SPD-Mitglieder distanziert haben, weist auf den Kern des überflüssigen Streits hin. Und es zeigt, dass der inflationäre Gebrauch des Wortes „Respekt“ im Programm der SPD und seitens ihrer Parteigranden nicht verdecken kann, dass dieser Partei, deren historische Leistung die Inklusion aller Bürgerinnen und Bürger in Staat und Gesellschaft war – egal welcher sexuellen, geschlechtlichen, ethnischen, sozialen, religiösen oder weltanschaulichen Herkunft und Orientierung –, der politische Kompass fehlt. Sie ist nicht in der Lage, einen Debatten-Konflikt politisch zu managen.

Vielleicht liegt der Kern dieses Konflikts im veränderten Selbstverständnis der SPD, die 2013 mit dem Satz „Das Wir entscheidet“ für heutige Verhältnisse üppige 25,7 Prozent erreichte. Der Wahlkampf-Slogan 2021 lautet: „Soziale Politik für Dich.“ Schon dieser Wandel vom „Wir“ zum „Dich“ zeigt, dass die Partei ihr Profil als Volkspartei für ein Dienstleistungsversprechen eingetauscht hat. Wer da wie Wolfgang Thierse an „grundlegende Gemeinsamkeiten des demokratischen Zusammenlebens“ erinnert, gehört nicht an den Rand der SPD, sondern steht mit den meisten ihrer Mitglieder in ihrer Mitte. Dort, wo immer noch Vertrauen und Wahlen gewonnen werden. Es bleibt zu hoffen, dass sich die SPD-Führung bei ihren „Zukunftsmissionen“ daran erinnert.

Weitere Artikel dieser Ausgabe