Wie viel

Kolumne | Auf den Zweiten Blick

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Kolumne | Auf den Zweiten Blick

Hannah Williams hat eine Mission. Seit Mai sorgt die amerikanische Datenanalystin (25) auf der Internetplattform TikTok für Furore. Mit Mikrophon und Kamera-Mann (ihr Lebensgefährte) streift sie durch amerikanische Innenstädte und stellt Passanten immer wieder dieselben zwei Fragen: What do you do? And how much do you make? Bereitwillig geben diese Auskunft – Anwälte ebenso wie Barkeeper, Maurer oder Computer-Spezialisten. So unterschiedlich wie die Menschen, so verschieden ihre Jobs, so sehr unterscheiden sich die Gehälter: Einkommensmillionäre, Normal- und Geringverdiener, deren Offenheit erstaunt. Manche Videos werden millionenfach geklickt. Williams selbst hat es binnen kurzer Zeit nicht nur auf gut 840 000 Follower, sondern auch in so bedeutende Medien wie das Time Magazine gebracht. Warum?

Weil sie Menschen dazu bringt, eines der größten Tabus der Arbeitswelt zu brechen: die Offenlegung des Gehalts. Darüber spricht man gemeinhin nicht, auch nicht in den Vereinigten Staaten und schon gar nicht unter Kollegen. Salary Transparent Street heißt ihr TikTok-Kanal. Der schnelle Erfolg hat sie überrascht. Jetzt hat sie eine Produktions­firma gegründet.

Williams will, dass jede und jeder Anhaltspunkte dafür bekommt, mit welchen Gehaltsvorstellungen sie oder er in ein Bewerbungs­gespräch gehen kann oder wann man unterbezahlt ist. Sie selbst hat Letzteres erlebt. Mit den Clips soll sich der Druck auf Arbeit- und Gesetzgeber erhöhen, endlich Transparenz zu schaffen. Wie sehr sich aber Unternehmen dagegen sträuben, kann man in New York derzeit studieren. Die Stadt will diese zwingen, schon in Anzeigen Gehaltsober- und -untergrenzen zu nennen. Dagegen läuft die Wirtschaft Sturm.

Auch in Deutschland sind die Gehälter tabu. Acht von zehn Angestellten wissen nicht, was ihre unmittelbaren Kollegen verdienen. Welches Unternehmen macht sich die Scheu oder Bescheidenheit von Bewerbern oder Mitarbeitern nicht zunutze?

Zwar gibt es seit 2017 ein Entgelttransparenzgesetz. Das aber ist aufgrund geringer Durchschlagskraft ein Witz. Die Gehaltsunterschiede zwischen Frauen und Männern für gleiche Arbeit liegen noch immer bei 20 Prozent, woran sich auch weiterhin nichts ändern wird. Wer derer, die sich benachteiligt fühlen, hat tatsächlich den Mut, Vorgesetzte, die gesetzlich zur Offenlegung verpflichtet sind, mit der Frage nach den Gehältern der Kollegen zu konfrontieren? Die Vernebelungstaktik der Arbeitgeber hat System.

In einer Zeit, in der die Wirtschaft durch alle Branchen hinweg einen rapide steigenden Arbeitskräftemangel beklagt, könnte man an dieser Front allerdings mehr Fortschrittlichkeit erwarten. Denn wer Gehälter transparent macht, sendet vor allem zwei Signale: dass es fair zugeht im eigenen Haus und dass man potenziellen Mitarbeitern schon im Bewerbungsgespräch auf Augenhöhe begegnen möchte. Im Kampf um die knapper werdenden Fachkräfte sorgt das für einen enormen Wettbewerbsvorteil und hilft, die Mitarbeiterzufriedenheit und deren Bindung an das Unternehmen zu erhöhen. Woher dann aber die Kurzsichtigkeit so vieler Unternehmen?

Hannah Williams steht jedenfalls erst am Anfang ihrer Mission. Sie will eine richtige Transparenz-Bewegung initiieren. Die tut nicht nur in Amerika dringend Not.

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