Bosnien – ein fragiles Konstrukt mit tiefen Rissen
Bosnien – ein fragiles Konstrukt mit tiefen Rissen
Bosnien-Herzegowina lebt derzeit in Angst vor Zerfall und neuem Krieg. Denn das Land ist in seiner heutigen Verfassung kein Wunschstaat irgendeiner der drei Nationen, die dort leben.
Der Staat, ein Konstrukt der USA, ist bis heute von den meisten seiner Bewohner ungeliebt. Der entsprechende Dayton-Vertrag von 1995 schuf keine stabile Friedensordnung, sondern organisierte lediglich die Abwesenheit von Krieg und die Eindämmung von Konflikten. Die Hoffnung auf einen funktionierenden demokratischen, marktwirtschaftlich ausgerichteten Gesamtstaat wurde schon im Ansatz zunichtegemacht. Die politischen Teilstaaten der Bosnjaken und der Kroaten einerseits sowie der Serben andererseits sind wie ein zerklüftetes Puzzle zusammengefügt, bei dem militärische Eroberungen territorial festgeschrieben wurden. Auf politischer Ebene sind sich die beiden Entitäten, die Föderation Bosnien-Herzegowina und die Republika Srpska, in gegenseitiger Abneigung verbunden. Die politische Lähmung, die weitgehend von nationaler Konkurrenz bestimmt ist, wird nicht nur innerhalb von Bosnien-Herzegowina befeuert.
Das gedankliche Erbe der damaligen Präsidenten Franjo Tudjman (Kroatien) und Slobodan Milošević (Serbien), in Bosnien-Herzegowina lediglich eine Verteilmasse für ihre jeweiligen Staaten zu sehen, wird weiter gepflegt. Kroatien und Serbien greifen institutionell zugunsten der Mitglieder ihrer jeweiligen Titularnationen in Bosnien-Herzegowina ein. Deutliches Anzeichen ist die massive Verteilung von kroatischen EU-Pässen und serbischen Pässen an Staatsbürger von Bosnien-Herzegowina – und zwar nach nationalen und teilweise auch religiösen Kriterien. Wer sich zur katholischen Kirche bekennt, wird der kroatischen Nation zugerechnet und darf auf einen EU-Pass aus Kroatien hoffen. Wer sich zur serbisch-orthodoxen Nationalkirche bekennt, dem steht folgerichtig ein serbischer Pass zu.
Diese Politik der doppelten Staatsbürgerschaft drängt die Bosnjaken, also die bosnischen Muslime, die über einen Bevölkerungsanteil von 50 Prozent verfügen und der wichtigste Träger einer gesamtstaatlichen Identität sind, immer mehr in eine Verteidigungshaltung. Es ist also verständlich, dass gerade diese Volksgruppe auf eine Stärkung des Zentralstaates drängt, während kroatische Politiker die Lösung eher in einem dritten, kroatischen Teilstaat sehen und serbische Politiker, allen voran der recht kämpferisch argumentierende Milorad Dodik, die Republika Srpska aus der zentralstaatlichen Verankerung loslösen will, abzielend auf eine Vereinigung mit der Republik Serbien.
Das Prinzip des politischen Puzzles wurde bei der Nachkriegsordnung von Bosnien-Herzegowina so weit getrieben, dass man den Staat nicht nur im Volksmund gerne als Absurdistan bezeichnet. Denn neben den beiden Teilstaaten mit eigenen Parlamenten und präsidialen Institutionen wurden in der Föderation Bosnien-Herzegowina zehn Kantone mit eigenen Regierungen geschaffen – neben dem weiterhin von allen beanspruchten Distrikt Brčko.
Kolportiert wird die Zahl von insgesamt 180 Ministerposten, die in einem Staat mit nur 3,2 Millionen Einwohnern zu vergeben sind. Wenn man daraus noch die gesamte Staatsbürokratie ableitet, wird klar, dass dieser staatliche Sektor eine wichtige Rolle bei der Stellenvergabe spielt, die nach dem Bekenntnis zahlreicher Betroffener dem nationalen Proporz folgt, flankiert von einer wuchernden Korruption. Die Kritik der internationalen Gemeinschaft an solchen Missständen, die in Person des Hohen Repräsentanten mit seinen weitreichenden Vollmachten regelmäßig vorgetragen wird, prallt bislang nahezu ungehört ab. Stattdessen hat sich die internationale Gemeinschaft zu konkurrierenden Gegenspielern in Bosnien-Herzegowina entwickelt. Russland und China behindern den Hohen Repräsentanten, den Deutschen Christian Schmidt, in provozierender Weise. Russland, aber auch der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán engagieren sich für die serbischen Interessen. Die USA bleiben ihrem Wunschverbündeten, den Bosnjaken, treu. Und innerhalb der EU haben vor allem rechtsnationale Parteien ihre Vorliebe für national-kroatische Belange in Bosnien-Herzegowina entdeckt. Hinter den Kulissen gab es bereits Gespräche bosnisch-kroatischer Spitzenpolitiker mit dem serbischen Präsidenten in Belgrad, wie umgekehrt der bosnisch-serbische Spitzenpolitiker Dodik mit dem kroatischen Ministerpräsidenten in Zagreb zusammentraf. Dies bestärkt die bosnischen Muslime, die sich als eigentliche Opfer des Bosnien-Krieges sehen, in ihrer Angst, sie könnten erneut Spielball einer neuen Teilungspolitik werden.
Zum Drama von Bosnien-Herzegowina als der Kernzelle eines jugo(süd-)slawischen Vielvölkerstaates gehört auf jeden Fall der Verlust jener Liberalität im Umgang mit nationalen Identitäten, wie man sie noch in den 1970- und 1980er-Jahren erleben konnte. Überdies hat das Land seit dem Kriegsbeginn 1992 nicht nur durch Kampfhandlungen, sondern vor allem durch Abwanderung fast 30 Prozent seiner Bevölkerung verloren. Ein einzigartiger negativer Trend hat sich seitdem durchgesetzt. Denn Bosnien-Herzegowina hat heute eine der niedrigsten Geburtenraten (1,28) der Welt. Und die Bevölkerung weist eines der höchsten Durchschnittsalter (43,11) weltweit auf.
Auf der positiven Seite stehen jüngste wirtschaftliche Erfolge in der Exportwirtschaft ebenso wie mäßigende Stimmen bosnjakischer und bosnisch-kroatischer Politiker, die sich wieder mehr auf die Zusammenarbeit als auf den Konflikt besinnen und Zuspruch quer durch die verschiedenen Nationen erhalten. Um so tragischer ist es für das Land, dass in der internationalen Gemeinschaft der Konsens für den Erhalt des Gesamtstaates nicht mehr einhellig geteilt wird.