Winter mit Wladimir

Für Moskau scheint der Moment gekommen, Europa mit seiner Abhängigkeit von russischem Erdgas unter Druck zu setzen.

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ASSOCIATED PRESS | ALEXANDER ZEMLIANICHENKO
Wladimir Putin
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ASSOCIATED PRESS | ALEXANDER ZEMLIANICHENKO
Wladimir Putin

Winter mit Wladimir

Für Moskau scheint der Moment gekommen, Europa mit seiner Abhängigkeit von russischem Erdgas unter Druck zu setzen.

Russlands Präsident Wladimir Putin kann sich zurücklehnen. Die Duma-„Wahlen“ gingen Mitte September wie gewünscht zugunsten der Putin-Partei Einiges Russland aus; sie behielt ihre Zweidrittel-Mehrheit im russischen Parlament. Der seit bald 22 Jahren amtierende Herr des Kremls kann ohnehin bis 2036 im Amt bleiben, dafür hatte bereits eine per Volksentscheid abgesegnete Verfassungsänderung gesorgt.

Rochade-Spielchen mit jemandem wie Dmitri Medwedew, der zwischen 2008 und 2012 den Präsidentenstuhl für Putin warmhalten durfte, sind überflüssig. Der „Robin“ zu Putins „Batman“, wie US-Diplomaten seinerzeit scherzten, ist nach langen Jahren als Premierminister dem Ewig-Präsidenten derzeit als Vizechef des Sicherheitsrates zu Diensten. Das „System Putin“ tut gar nicht mehr so, als ob.

Gesteigerte Repression

Dass dies zum Preis nochmals gesteigerter Repression geschieht, bereitet Russlands Mächtigen keine schlaflosen Nächte. Die populäre Unterstützung und damit die – behauptete – Legitimität der Putin’schen Kleptokratie mögen bröckeln, die Erfahrung der vergangenen Jahre aber besagt: Druck wirkt.

Alexei Nawalny, der sich die Frechheit leistete, den Mordanschlag des russischen Militärgeheimdienstes mit dem geächteten Nervenkampfstoff Nowitschok zu überleben, ist in Lagerhaft, die Strukturen seiner Organisationen weitgehend zerschlagen. Apple und Google löschten lieber Nawalnys „Smart Voting“-App, die zeigte, wo und wie sich gegen Einiges Russland wählen ließe, als sich mit den russischen Sicherheitsbehörden anzulegen. Ähnlich wie Nawaly ging es vor den Wahlen auch anderen Oppositionellen, die oft gezwungen sind, sich als „ausländische Agenten“ brandmarken zu lassen. Von den Überresten einer freien Presse in Russland ganz zu schweigen.

Mag der diesjährige Friedensnobelpreis an den Journalisten Dmitri Muratow, Mitgründer und Chefredakteur der Nowaja Gazeta, gehen, die Potsdamer M100-Medienkonferenz mit FPD-Chef Christian Lindner als Laudator und diese Woche das Europaparlament mit der Vergabe des Sacharow-Preises Nawalny ehren und unterstützen – Auswirkungen auf die russische Politik wird all dies nicht haben. Nicht nur ist das Maß öffentlicher Empörung über die Verhältnisse in Putins Russland weit von jeder „kritischen Masse“ entfernt. Wichtiger noch: Land und Präsident stehen mächtiger da denn je – eine Folge auch der verfehlten deutschen Russlandpolitik der vergangenen Jahrzehnte.

Mythos des Untergangs

Der „Mythos“ des zum Scheitern verurteilten Russlands, ein von demographischer Schrumpfung bedrohter „Petrostaat“, der auf „Atomwaffen und Ölquellen sitzt und sonst nichts“ (so US-Präsident Joe Biden noch diesen Juli), ist nicht nur falsch, wie Michael Kofman und Andrea Kendall-Taylor kürzlich in Foreign Affairs schrieben. Sondern er hat in Washington auch zur gefährlichen, aber weit verbreiteten Ansicht geführt, man müsse Russland nicht mehr sonderlich ernst nehmen.

Der oft zitierte Satz, Russlands Wirtschaftsgröße reiche ja gerade mal an die (hierzulande auch nicht so besonders gut beleumundete) Italiens heran, erweist sich als trügerisch, schreiben Kofman und Kendall-Taylor unter anderem. Rechnet man Kaufkraftparität ein, ist Russland plötzlich Europas zweitgrößte Volkswirtschaft – ausgestattet mit der bei weitem größten Militärmacht des Kontinents, die in den vergangenen Jahren zielstrebig aufgerüstet hat, Nuklearwaffenarsenale samt Überschallraketen und diverser Doomsday-Waffen inklusive.

Amerika unterschätzt Russland letztlich auf eigene Gefahr; aber ebenso gefährlich ist die in Europa gespiegelte Haltung von „Putin-Verstehern“ aller Couleur. Nach deren Ansicht habe Russlands Präsident die Krim 2014 nur deshalb annektiert und sei in die Ukraine einmarschiert, weil ihn „der Westen“ dazu gezwungen habe. Auch Putins Eingreifen im syrischen Bürgerkrieg auf Seiten von Machthaber Baschar al-Assad (samt Bombardierung von Krankenhäusern) und in Libyen wird so erklärt. In dieser Sichtweise agiert der Kreml stets defensiv – wie auch im seinem „hybriden Krieg“ gegen den Westen samt Desinformationskampagnen und Hacking-Attacken. Das sei kostengünstig und ein Mittel des Schwächeren (das Auswärtige Amt beschwerte sich vor den Bundestagswahlen nicht ohne Grund, aber ohne Erfolg, bei Moskau).

Statt Putin „in die Enge“ – oder in Chinas Arme – zu treiben, müsse man nur mehr verhandeln, russische Interessen einbeziehen. Was Putin allerdings davon hält, „den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen“, hat er vergangene Woche zum x-ten Male klargemacht: Die Nato-Vertretung in Moskau musste schließen – eine Antwort sicherlich auf die Ausweisung russischer Diplomaten aus Brüssel, denen Spionage vorgeworfen wird. Aber eben doch ein deutliches Signal: Wir haben es gar nicht nötig, mit der Nato zu reden. Deutsche Stiftungen, allen voran die Heinrich-Böll-Stiftung, könnten in Kürze folgen.

Ungemütliche Aussichten

Einiges spricht dafür, dass sich russischer Druck diesen Winter stark auf Deutschland und Europa richten wird. Die Knappheit auf dem europäischen Gasmarkt, die die Preise hat explodieren lassen und dem Kreml Extraeinnahmen beschert, geht nicht allein auf die russische Politik zurück. Doch zeichnet sich ab, dass Putin die unsichere Situation – samt Regierungsbildung in Deutschland –nutzen will, um weitere Fakten in Sachen Europas energiepolitischer Abhängigkeit zu schaffen.

So ist die russische Aufforderung an Deutschland zu verstehen, der Gaspipeline Nord Stream 2 nun schnell die Betriebsgenehmigung zu erteilen (die Bundesnetzagentur hat dazu noch bis zum 8. Januar Zeit), nur dann könne man die Liefermenge erhöhen. Warum dies nicht über die durch die Ukraine führende Pipeline möglich ist, wird nicht erklärt. Denn dem Gasmolekül mag es, in den Worten der scheidenden Bundeskanzlerin Angela Merkel – die übrigens für ihre jahrelange Unterstützung von Nord Stream 2 von Putin nie eine Gegenleistung erhalten hat – egal sein, auf welchem Weg es Europa erreicht. Dem Kreml ist es nicht egal. Nord Stream 2 soll kommen, und zwar jetzt.

Abhängigkeiten verringern

Denn mit der Inbetriebnahme der Pipeline erhöhte sich erst einmal Deutschlands und Europas Gas-Abhängigkeit; und die Ukraine kann als Transitland fortan umgangen werden. Was werden Merkels gegenüber Washington gemachte Zusagen, man werde Sanktionen verhängen, sollte Putin Energielieferungen als Waffe einsetzen, demnächst wert sein?

All dies sollte der sich bildenden Bundesregierung Anlass sein, die Russlandpolitik grundlegend zu überdenken. Die Grünen zumindest pochen darauf, bei Nord Stream 2 zumindest EU-Vorgaben einzuhalten, wonach Pipeline-Betreiber und Gaslieferant nicht ein und das gleiche Unternehmen sein können (bei Nord Stream 2 beides Gazprom). Richtig ist auch, sich nicht erpressen lassen zu wollen.

Letztlich aber muss die Antwort auf Moskauer Augenhöhe erfolgen: Europa muss schnellstmöglich seine Gasabhängigkeit von Russland verringern – ein Ziel, das sich mit Dekarbonisierung und Klimaneutralität deckt und nur europäisch zu erreichen ist, nicht aber mit deutsch-russischen Sonderbeziehungen. Berlin muss die Herausforderungen, die von der russischen Korruptions- und Untergrabungspolitik ausgehen, endlich ernstnehmen und ihr etwas entgegensetzen. Und nicht zuletzt gehört eine starke Bundeswehr dazu, die ihre Bündniszusagen einhält und Europa militärisch stärkt. Denn bei Moskauer Druck, das lehren die ernüchternden Erfahrungen der Schröder- und Merkel-Jahre, hilft nur glaubhafter Gegendruck.

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