Wirklichkeit und Schimären

Hinter dem dröhnenden Auftritt Moskaus verbirgt sich die Einsicht, dass das internationale Gewicht Russlands abzunehmen droht

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PICTURE ALLIANCE/EPA | MICHAEL REYNOLDS
Weichenstellung: Kanzler Olaf Scholz in Washington mit US-Präsident Joe Biden
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PICTURE ALLIANCE/EPA | MICHAEL REYNOLDS
Weichenstellung: Kanzler Olaf Scholz in Washington mit US-Präsident Joe Biden

Wirklichkeit und Schimären

Hinter dem dröhnenden Auftritt Moskaus verbirgt sich die Einsicht, dass das internationale Gewicht Russlands abzunehmen droht

„Deutsche Waffen für die Ukraine?“ „Nord Stream 2 auf dem Boden der Ostsee versenken, falls Russland angreift?“ Über solch selbst gemachte Themen drohte die deutsche, aber auch die internationale Debatte den Blick für die eigentliche Herausforderung zu verlieren, vor der wir stehen: Die russische Führung will die europäische Friedensordnung langfristig und einseitig zu unseren Lasten verändern. Die massive militärische Drohung gegen die Ukraine ist quasi das Vehikel, um den Westen zu zwingen, ultimativ aufgestellte Forderungen zu akzeptieren. Es geht ja nicht nur darum, der Ukraine die Selbstbestimmung ihrer Sicherheit zu untersagen – raunende Drohungen wurden auch gegenüber Finnland und Schweden ausgesprochen. Unsere ostmittel­europäischen Partner sollen sich militärisch entblößen: keine Truppen und Einrichtungen der NATO auf ihrem Territorium. 6500 estnischen stünden dann 1 Million russischer Soldaten gegenüber. Die USA sollen ihren nuklearen Schutzschirm von Europa abziehen, Herzstück unserer Sicherheit.

Natürlich weiß man in Moskau, dass man jene Regeln und Grundsätze, derer man überdrüssig ist, selbst mit verhandelt und verabredet hat. Egal. Doch verkalkuliert haben mag man sich einmal mehr in der Geschlossenheit der westlichen Reaktion und in der Bereitschaft, gegebenenfalls entschlossen zu reagieren. Wir können uns unmöglich auf eine Rolle rückwärts ins 19. Jahrhundert einlassen, mit Großmächten, die unter sich ausmachen, wo die Kleinen zu sitzen haben, mit Pufferzonen und Einflusssphären – auf eine Politik, die in zwei Weltkriegen schrecklich gescheitert ist. Auch Viktor Orbán, stets auf Schmusekurs mit Moskau bedacht, muss angesichts der russischen Forderungen die Sicherheit seines Landes gefährdet sehen. Freund Erdoğan liefert der Ukraine Hochleistungsdrohnen und weigert sich konsequent, die Annexion der Krim anzuerkennen.

Was also treibt Moskau an, was hat es vor?

So paradox es klingen mag: Hinter dem dröhnenden Auftritt Moskaus verbirgt sich auch die Einsicht, dass das internationale Gewicht Russlands andernfalls weiter abnehmen wird. Sein Reichtum basiert unverdrossen auf dem Export von Rohstoffen, von Öl und Gas, fossile Energieträger, die wir in absehbarer Zeit immer weniger abnehmen werden. Trotz mancher Fortschritte und Erfolge (das zweitwichtigste Exportgut sind übrigens robuste Militärgüter) gelingt es der autokratischen Führung nicht, die strukturellen Defizite ihres endlichen Wirtschaftsmodells zu beseitigen: überbordende Bürokratie und Entmutigung privaten Unternehmertums, abschreckende Bedingungen für ausländische Investoren, Korruption und Kleptokratie. Alle Mängel sind bekannt, werden offen benannt und nicht abgestellt. Ein Russland, das wirtschaftlich so erfolgreich wäre wie China, müsste sich keiner alarmierender Drohkulissen bedienen, um Gewicht auf die internationale Waagschale zu bringen. Uns würde eine solche Entwicklung übrigens vor ganz andere Herausforderungen stellen.

Dass Russland überdies seine Sicherheit bedroht sieht, mag uns paradox erscheinen. An der NATO-Nichtperspektive der Ukraine und Georgiens hat sich seit dem dafür entscheidenden NATO-Gipfel in Bukarest von 2008 nichts geändert. Nicht die NATO war das erste Militärbündnis, das sich nach Ende des kalten Krieges ausweitete, sondern der von Russland dominierte „Vertrag über kollektive Sicherheit“: mit dem Beitritt von Belarus 1992. Und wie sollte das transatlantische Bündnis auf die selbstmörderische Idee kommen, die Nuklearmacht Russland anzugreifen?

Manche dieser Bedrohungsängste sind konstruiert, um instrumentalisiert zu werden, andere aber zweifellos tief in einem geheimdienstlich geprägten Denken verankert, das sich von Verschwörungen umgeben sieht, von Versuchen des „Westens“, auch in Russland eine „Farbrevolution“ anzuzetteln. Und Perzeption ist nun einmal Realität. Deswegen ist es so wichtig, darüber zu sprechen, zu versuchen, die Sichtweise des anderen zu verstehen, Chimären von Realitäten zu scheiden und zu Verabredungen zu kommen. Über Transparenz, vertrauensbildende Maßnahmen und Rüstungskontrolle – ohne jene Prinzipien preiszugeben, die den Frieden in Europa erfolgreich gewährleisten. Dass es der westlichen Politik gelang, angesichts ultimativer, von Gewaltandrohungen unterlegter Forderungen zahlreiche Gesprächskanäle zu eröffnen, war ein Erfolg. Wenn die russische Führung es umgekehrt als Erfolg verbuchte, nun wieder „auf Augenhöhe“ mit den USA zu reden, sei das gerne konzediert. Es geht ja auch darum, welchen Ausweg der Kreml aus dem selbst erzeugten Dilemma findet. In einer von enormer Propaganda aufgeheizten Stimmung muss man zu Hause auch Sieg erklären können.

Doch Diplomatie geriet an Grenzen – denn „it takes two to tango“. Der Kreml verweigerte sich dem Gespräch im Kern. So ist leider nicht ausgemacht, dass Russland nicht militärisch gegen die Ukraine ausgreift. Auch schon eine Seeblockade der ukrainischen Küste, zwischen Krim und rumänischer Grenze, würde das bedrohte Land, aber auch die internationale Gemeinschaft vor eine enorme Herausforderung stellen. Es ist ein wichtiges Element westlicher Politik, solche Absichten und Szenarien vorab klar beim Namen zu nennen.

Die Folgen solchen Vorgehens für Russland wären in mehrfacher Hinsicht dramatisch: Die westlichen Sanktionen wären massiv und einschneidend – und sie zielen auf die Achillesferse der russischen Führung. So gut die finanziellen Polster derzeit sein mögen, ist man doch auf die enormen Einnahmen aus den Öl- und Gasexporten, auf internationale Bankverbindungen und westliche Hightech-Lieferungen angewiesen. Die westlichen Maßnahmen wären geeignet, die Machtbasis der Führung zu gefährden – das fürchtet sie wirklich. Und wie ginge man zu Hause mit den Lasten eines größeren Krieges um, wenn man schon, mit teils rabiaten Methoden, versucht hat zu kaschieren, dass im Donbas-Konflikt russische Soldaten gefallen sind?

Darüber hinaus aber würde ein Angriff auf die Ukraine es völlig unmöglich machen, jene weiteren Ziele zu erreichen, die die russische Führung sich gesteckt hat. Im Gegenteil: Es stünde zu erwarten, dass die bislang zurückhaltende Debatte über einen NATO-Beitritt in Schweden und Finnland volle Fahrt aufnimmt, dass die NATO – die bislang nach Möglichkeiten darauf bedacht ist, ihre Verabredungen aus der mit Russland vereinbarten Grundakte zu achten – sich in Ostmitteleuropa ganz anders aufstellt. Dass in Deutschland die Kritiker der nuklearen Teilhabe beginnen, neu nachzudenken.


Außenministerin Annalena Baerbock
zu Besuch bei ihrem russischen Amtskollegen
Sergej Lawrow in Moskau



Überhaupt, Deutschland. Die Politik der Bundesregierung ist weit besser, als sie zunächst geklungen hat, um einen Satz von Mark Twain über Wagners Musik zu paraphrasieren. Die Linie von Bundeskanzler und Außenministerin ist – inzwischen – klar. Olaf Scholz ist es gelungen, seine Partei auf einen einheitlichen Kurs einzuschwören – dafür redet er nicht über ein Ende von Nord Stream 2, ohne dies auszuschließen, aber in der Hoffnung mancher in der SPD, dass es so weit nicht kommen wird. Im Gespräch mit dem amerikanischen wie dem russischen Präsidenten wird er deutlicher sein als in den anschließenden Pressekonferenzen. Die Irritationen in der internationalen Debatte über die deutsche Haltung waren eher von der Kakophonie auf den Seitenlinien bestimmt. Deutschland hat viel einzubringen und hat dies aktiv getan. Das neu belebte Normandie-Format ist das einzige Forum, in dem die Ukraine und Russland sich direkt austauschen.

Die Annexion der Krim hat übrigens auch China bis heute nicht anerkannt. So wichtig und gewichtig der demonstrative Schulterschluss zwischen Xi und Putin in Peking anlässlich der Olympischen Spiele gewesen sein mag – seine langfristige Bedeutung sollte man nicht überschätzen. Russland ist bereits jetzt der Juniorpartner in diesem Verhältnis und wird es immer mehr werden, in dem Maße, wie China davonzieht. 16,9 % seiner Exporte liefert China in die USA – 1,9 % seiner Exporte nach Russland. 90 % davon sind verarbeitete Güter – 90 % der russischen Exporte Rohstoffe. Wenn die russische Führung eines fürchtet, dann ist es, freundschaftlich so umarmt zu werden, dass einem die Luft wegbleibt.

Doch Russland hat eine Alternative – den Westen Europas. Wir müssen ja nicht gleich beste Freunde werden, um ein gedeihliches Verhältnis zum beiderseitigen Vorteil zu gestalten. Wir sollten daher an dem richtigen Ansatz festhalten, Verletzungen des Friedens robust zu beantworten und zugleich im Dialog Perspektiven aufzuzeigen, die für Russland attraktiv sind. Über die Gewährleistung von Sicherheit in Europa, wie die gemeinsame Lösung anderer großer Themen: Terrorismus und Migration, Pandemie und Klimawandel. Und dabei stets deutlich machen, dass wir die attraktive Alternative zu China sind, das uns alle gleichermaßen – und Russland längerfristig besonders – herausfordert, eine Alternative für ein auskömmliches und friedliches Miteinander auf der eurasischen Landmasse. Allerdings haben auch die Europäer dafür noch einige Hausaufgaben zu erledigen – auch, weil niemand vorhersehen kann, wer nach 2024 im Weißen Haus sitzen wird. Und die russische Führung muss bereit sein, sich auf ein Gespräch einzulassen, das tatsächlich die Interessen beider Seiten im Blick hat.

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