Die Bilder aus Russland zwingen den Westen, zu reagieren – schon um das Gesicht zu wahren
Die Bilder aus Russland zwingen den Westen, zu reagieren – schon um das Gesicht zu wahren
Es ist der Stoff, aus dem Legenden gewoben werden, oder Hollywood-Drehbücher geschrieben: Der mutige Regimekritiker, vom Giftanschlag wiederauferstanden, kehrt zurück ins mörderische Imperium, enthüllt die kleptokratischen Netzwerke und hält dann im Gerichtssaal eine atemberaubende Spottrede gegen „diesen kleinen Betrüger in seinem Bunker“ – gegen den mächtigen Präsidenten Russlands. Gegen den Mann, der seinen Tod befohlen habe, so Alexei Nawalny. Es ist eine beißende Provokation, die kurz darauf um die Welt geht. „Mein Leben ist wohl keine drei Kopeken mehr wert“, sagt Nawalny noch. „Trotzdem rufe ich alle dazu auf, keine Angst zu haben.“ Dann Abgang in Handschellen.
Noch um Mitternacht gleicht die Moskauer Innenstadt an diesem 2. Februar einem Kriegsschauplatz. „Freiheit für Nawalny!“, skandieren Tausende in die Nacht, Sicherheitskräfte in martialischer Schutzkleidung prügeln brutal auf Demonstranten ein, schleppen 1170 Festgenommene in bereitstehende Busse. Politiker und Regierungschefs im Westen reagieren mit scharfer Kritik, fordern Nawalnys Freilassung und die Wiederherstellung von Rechtsstaatlichkeit in Russland. Ungewöhnlich scharf sind die Formulierungen. Fast so, als hätten sie etwas Neues entdeckt. Tatsächlich aber ist Russland seit vielen Jahren ein Unrechtsstaat, die Justiz ein williges Werkzeug des Kremls. Nur jetzt, und das ist Nawalnys Verdienst, sind die letzten Masken gefallen.
Schon das Urteil, zwei Jahre und acht Monate wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen, heruntergeleiert von der Richterin Natalja Repnikowa im Simonowsker Kreisgericht, widerspricht jedem Rechtsverständnis, buchstabiert der 44-jährige Angeklagte im lässigen Kapuzenpulli ihr aus seinem Glaskäfig heraus. Der zugrundeliegende Betrugsfall aus dem Jahr 2014 war „willkürlich“ und „konstruiert“, konstatierte damals tatsächlich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Er forderte die Russische Föderation sogar auf, Nawalny eine Entschädigung von 76 000 Euro zu zahlen – was diese auch tat. Ein Schuldanerkenntnis, so Nawalny zu seiner Richterin.
Doch warum greift Moskau auf ein fragwürdiges Verfahren aus der Mottenkiste zurück? Ein neues hätte der Kreml schnell und routiniert konstruieren können. Ist ein für wenige Wochen freier Nawalny so gefährlich für Putins Herrschaft? Warum diese brutalen Polizeistaat-Szenen aus über einhundert russischen Städten, über 11 000 Festnahmen, 750 Urteile über insgesamt fast 20 Jahre Haft, wie die Zeitung Kommersant meldet? Fast alle engen Berater und Mitarbeiter Nawalnys sehen Strafverfahren entgegen, ein regelrechter „Enthauptungsschlag“, so die Zeitung. Zeigt diese unerbittliche Härte in Wahrheit nur wachsende Angst hinter den Kremlmauern, wie von vielen Insidern vermutet?
Die Figur Nawalny allein kann es nicht erklären. Noch vor Monaten zeigt eine Umfrage des Levada-Centers: Nur 20 Prozent der Bevölkerung begrüßen Nawalnys Aktivität, aber 50 Prozent lehnen sie ab. 33 Prozent trauen ihm, 55 nicht. Auch als Putin-Nachfolger wollen ihn nur wenige sehen. Nawalny hat weder eine Partei noch ein politisches Programm, er ist ein „One Trick Pony“, hat nur ein Thema: den Kampf gegen die staatlich orchestrierte Korruption, gegen Putins Kleptokratie. Den allerdings führt er mit sicherem Gespür für Symbolik: 800-Dollar-Klobürsten für Putins Palast, teurer als russische Monatsgehälter, lassen immer mehr Demonstranten jetzt Klobürsten schwenken.
Warum zittert das ratlose Regime also vor diesem „Berliner Patienten“, dessen Namen Putin nie über die Lippen brachte? Liberale, pro-westliche Ideen wie Rechtsstaat und Zivilgesellschaft stoßen in Russland eher auf Misstrauen. Zu traumatisch waren die 1990er-Jahre, der Aufbruch in Demokratie und Marktwirtschaft, die Oligarchen-Raubzüge, die Bankenpleiten, die empfundenen Demütigungen durch den überlegenen Westen. Mit sicherem Gespür setzte Putin daher schnell auf neuen Nationalstolz, auf die „russische Welt“ als stolze Alternative zum dekadenten und feindseligen Westen. Das war Balsam für russische Seelen und stabilisierte seinen Weg in die Autokratie. Oppositionsparteien mit liberalen Politikentwürfen blieben bedeutungslos. Krim-Annexion, Krieg im ukrainischen Donbass, Bomben auf Syrien, Feuerkraft statt Völkerrecht – alles kam an bei Putins Wählern.
Vorbei. Nach 20 Jahren hat der Putinismus seine Zauberkraft verloren. Im Kampf „Fernseher gegen Kühlschrank“ gewinnt letzterer die Oberhand, der Propaganda-Apparat kann die wirtschaftliche Misere nicht mehr übertünchen. Die Realeinkommen sinken seit sechs Jahren, 20 Millionen leben unterhalb der offiziellen Armutsgrenze, und die ist weltfremd niedrig definiert. Putins Umfragen befinden sich im steilen Sinkflug. Er kann seinem Volk nicht mehr erklären, warum trotz Rohstoff-Reichtum so viele im Elend leben.
Schlimmer noch: Das System Putin hat offensichtlich aufgegeben, sich – und damit die Wirtschaft – zu reformieren. Die Planwirtschaftler, die Geheimdienstler, die Scharfmacher haben längst die Oberhand über die liberalen Ökonomen gewonnen. Gegen Alexei Kudrin etwa, den langjährigen und weltweit respektierten ehemaligen Finanzminister. Er forderte immer wieder die Rückkehr zum Rechtsstaat und ein Ende der feindseligen Rhetorik dem Westen gegenüber. Nur so sei die russische Wirtschaft noch zu retten. Doch Kudrin wurde als Rechnungshof-Präsident entsorgt, längst geben die mächtigen „Silowiki“ den Ton an, die Geheimdienstler, Staatsanwaltschaft, Polizei und Militär. Sie setzen auf Repression – und Raubrittertum. Die Erpressung erfolgreicher Unternehmer ist eine reiche Pfründe, der Flurschaden für das Investitionsklima interessiert nicht. Das verwüstet vor allem den Mittelstand.
Jeder sechste russische Bürger über 15 hat Nawalnys Enthüllungsvideo „Putins Palast“ gesehen, schätzen Beteiligte. Das brachte viele auf die Straße, die nie zuvor protestiert hatten. Doch Empörung über Korruption hat in Russland besonders kurze Halbwertzeiten, dafür haben Jahrhunderte Zaren- und Sowjet-Herrschaft gesorgt. Wenn Nawalny jetzt in einem sibirischen Straflager verstummt – wird dann alles wieder gut für Putin und seine Umgebung? Wohl kaum. Immer härtere Repressionen können die Erosion der Putin-Herrschaft verlangsamen, aber nicht stoppen. Dazu bräuchte es schnelle und glaubhafte Reformen – mit denen niemand rechnet.
Alexei Nawalny hat wie ein Katalysator den Entfremdungsprozess zwischen Putin und seinem Volk beschleunigt, den autoritären Staat demaskiert – in den Augen der russischen Bevölkerung, aber auch im Rest der Welt. Einfach wegzuschauen und weiter gute Geschäfte zu machen, ist noch schwieriger geworden. Die Bilder aus Russland zwingen den Westen förmlich, zu reagieren, schon um das Gesicht zu wahren. Ändern werden allerdings neue Sanktionen genauso wenig wie neue Dialogversuche: Putins Rezepte für Machterhalt sind offensichtlich Gewalt und Einschüchterung. Im Nachbarstaat Belarus haben sie bisher funktioniert.