Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine markiert eine Wende. Nur handelt die deutsche Politik noch nicht ganz danach
Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine markiert eine Wende. Nur handelt die deutsche Politik noch nicht ganz danach
Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine geht in die nächste Phase. Der Versuch, Kiew zu stürmen und die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj zu stürzen, ist vorerst aufgegeben. Die russischen Truppen werden an andere Fronten verlegt oder sie formieren sich neu. Die nächsten Offensiven stehen im Osten und Süden bevor. Nun geht es um die Eroberung des Donezbeckens (Donbass) beziehungsweise des gesamten „Neurussland“ (Novorossiya) – jene Gebiete in der Südukraine einschließlich Mariupol und Odessa, die einst Katharina die Große dem russischen Zarenreich einverleibte.
Über die Art der russischen Kriegsführung gibt es seit dem russischen Abzug aus der Umgebung um Kiew kaum noch einen Zweifel. Russlands Armee führt einen Vernichtungskrieg gegen das Nachbarland, dessen Staatlichkeit Putin und sein Regime schlicht leugnet, und begeht en masse Kriegsverbrechen an der ukrainischen Zivilbevölkerung. Diejenigen, die vor dem 24. Februar noch die Frage aufwarfen, ob denn russische Truppen kaltblütig auf Alte, Frauen und Kinder schießen würden, deren Muttersprache ebenfalls Russisch ist und die aussehen wie die eigenen Familienangehörigen, sind eines Schlechteren belehrt.
Die Kriegsverbrechen von Butscha, die diese Woche ans Licht der Weltöffentlichkeit kamen, sind kein Einzelfall; sie sind symptomatisch für Russlands generelles Vorgehen. Die horrende Lage in Mariupol, seit Wochen belagert und zu mehr als 90 Prozent zerstört (zum Vergleich: Köln, wo „nur noch der Dom stand“, war nach dem Zweiten Weltkrieg zu 60 Prozent zerstört), ist derzeit nur die größte Hölle auf ukrainischen Erden. In vielen von russischen Truppen besetzten Teilen des Landes sieht es genauso aus: Mord, Vergewaltigung, Plünderung, Verwüstung von Infrastruktur, Wohnvierteln und landwirtschaftlichen Betrieben.
Das ist der eine Teil der „neuen Realität“, die man gerade in Deutschland weiterhin nicht so ganz wahrhaben will, der allabendlichen Bilder in den Nachrichtensendungen zum Trotz. Aber nicht nur deshalb kann es mit Putins Russland keine Rückkehr zu einem Status quo ante geben. Denn der andere Teil der Realität ist: Putins Kriegserklärung gilt dem „Westen“ insgesamt, den der Herrscher im Kreml für schwach hält und in dessen angeblicher „Homosexuellenkultur“ er eine Gefahr auch für Russland erblickt – längst nicht erst seit dem 24. Februar.
Die Drohung mit massiven wirtschaftlichen Folgen hat Putin nicht beeindruckt. Womöglich zu Recht: Die gewaltige Abhängigkeit von russischem Erdgas, in die Sozial- und Christdemokraten Deutschland geführt haben und die noch vor kurzem abgestritten wurde, sorgt dafür, dass die Sanktionspolitik der EU eben nicht mit letzter Konsequenz betrieben wird. In vielen Fällen bremst Berlin. Und ohnehin scheinen wirtschaftliche Folgen für Putin nachrangig, wenn ein Zurückstecken der Kriegsziele aus Kreml-Sicht die Gefahr eines Abstiegs Russlands vom Weltmachtstatus mit sich brächte.
Deshalb ist die stille Hoffnung darauf, es möge doch bald einen Waffenstillstand geben und diese „Störung“ am Rande Europas vorübergehen, ebenso irrig wie die Idee, man könne neue Abmachungen mit Putin, eine Art „Minsk III“, dann von außen „garantieren“. Denn Putin hat kein Interesse an einer Verhandlungslösung, die nicht auf die Zerstörung der Ukraine hinausliefe. Davon zeugt schon die personelle Besetzung der russischen Verhandlungsdelegation bis hin zu Delegationsleiter Wladimir Medinski, Ex-Kultusminister und Großrussland-Ideologe, aber eben kein Mann des russischen Sicherheits- und Militärapparats, der irgendwelches Gewicht hätte. Auch hätte ein Vertrag mit Putins Unterschrift kaum einen Wert; der Kreml würde seine Lügen nicht einstellen, von seinem aggressiven Vorgehen nicht ablassen und den nächsten Konflikt eröffnen: Moldau, Georgien, womöglich gar das von der Nato geschützte Baltikum.
Die Erfahrung zweier Jahrzehnte zeigt: Mit Wladimir Putin wird es in Europa keinen Frieden geben – übrigens auch nicht in Afrika, wo Putins Wagner-Söldner an der Seite von Militärdiktaturen in immer mehr Staaten ebenfalls Gräueltaten begehen. Diesen Frieden gibt er nur gegen ihn, und das bedeutet, dass die Ukraine den Krieg gewinnen muss – und um das zu erreichen, kommt es besonders auf Deutschland an. Denn nicht nur hat die fehlgeleitete Politik zweier Jahrzehnte gegenüber Putin zur aktuellen Situation beigetragen: Auch die oft beschworene „historische Verantwortung“, die aus der Schuld am Holocaust und Zweiten Weltkrieg erwächst, gebietet es, Putins mörderischen Ambitionen entschiedener als bisher entgegenzutreten.
Drei Punkte sind besonders wichtig: Erstens ist da die beschleunigte, großzügige und beständige Versorgung der ukrainischen Armee mit allen Waffen und Waffensystemen, die sie zur Abwehr des russischen Angriffskriegs braucht. Solche Unterstützung für ein angegriffenes Land ist keine Eskalation, sondern von Artikel 51 der UN-Charta gedeckte Verteidigung gegen einen Aggressor – und damit auch der internationalen Ordnung.
Zudem sollte die Bundesregierung in Sachen Sanktionen weiter die Schrauben anziehen: Wird wirklich alles getan, was möglich wäre? Wenn denn ein Energie-Embargo nach Überzeugung von Bundeskanzler Olaf Scholz und seiner Regierung nicht möglich ist, ohne Deutschland und Europa gravierend zu schwächen (und nur das wäre ein überzeugendes Argument), würde man gern hören, was stattdessen ginge. Mehr Mut, mehr Kreativität, mehr Rigorosität beim Vorgehen gegen die Stützen des Putin-Regimes, gegen korrumpierende Netzwerke und in Deutschland versteckten Oligarchen-Vermögen wäre angebracht. Dazu gehört auch Hilfe bei der Dokumentation von Kriegsverbrechen und deren internationale Strafverfolgung. Wenn Putin zum international geächteten Paria wird, den loszuwerden Russlands wirtschaftliche Situation wieder verbesserte, dann ändert sich womöglich das Kalkül in der russischen Elite.
Drittens sollte die Bundesregierung aktiver daran mitarbeiten, der Ukraine eine echte europäische Perspektive zu bieten. Diese kann nach Lage der Dinge auf nichts anderes als auf eine EU-Mitgliedschaft hinauslaufen. Auf längere Sicht ist dies die einzige Option, dem Freiheitswillen des Landes und seinem „Weg nach Westen“ zu entsprechen und es gegenüber Russland auch ökonomisch zu stärken.
Weiter auf Vorsicht zu setzen würde bedeuten, Putins Chancen auf einen militärischen Sieg zu erhöhen. Schon Ende des Monats ist nicht völlig ausgeschlossen, dass bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich die rechtsextreme Populistin Marine Le Pen an die Macht kommt, bis eben noch ausgewiesener Fan der Kreml-Politik. In zweieinhalb Jahren könnte Putin-Bewunderer Donald Trump ins Weiße Haus zurückkehren. Gegen einen solchen „Westen“ hätten ein erfolgreicher Putin und sein Russland dann leichtes Spiel. Deshalb sind die kommenden Tage entscheidende Tage nicht nur für die Ukraine.